Begegnungen und Gespräche statt Erinnerungskultur

Plädoyer für eine Begegnungskultur

„Es stimmt, es gibt Synagogen, viele Erinnerungsorte und jüdische Museen. Aber wir haben kein lebendiges und unbedrohtes Miteinander von Juden und Nicht-Juden in Deutschland.“ Dies war eine der Kernaussagen des Buchautors Professor Dr. C. Bernd Sucher während eines Vortrags in der Aula des Lahnsteiner Johannes-Gymnasiums. Regelmäßig gebe es antisemitische „Vorfälle“, wie Angriffe auf Juden und jüdische Institutionen verharmlosend genannt würden, so Sucher. „Die Bundesrepublik ist trotz aller Beteuerungen, man lasse nie wieder Judenhass zu, für Juden eine unsichere Heimat. Sie war es, sie ist es – und man muss kein Hellseher sein, um zu fürchten, dass sie es auch künftig sein wird.“

Sucher hatte an der Schule sein Buch „Unsichere Heimat – Jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis heute“ präsentiert. Anschließend stellte er sich den Fragen der Schülerinnen und Schüler. Der Autor, der auch ein bekannter Theaterkritiker sowie Hochschullehrer für Film und Fernsehen ist, hatte bereits am Vorabend in Koblenz referiert. Dorthin war er von Michael Schöning, dem Präsidenten des Lions Clubs Koblenz Rhein-Mosel, zu einem Vortrag eingeladen worden. „Ohne diese Einladung des Lions Clubs wäre ich nicht hier. Aber wenn ich komme, ist es mir immer wichtig, auch eine Schule zu besuchen“, betonte Sucher. Als bekennender Jude forderte er „eine Begegnungs- und Gesprächskultur statt einer Erinnerungskultur“. Denn die Erinnerungskultur habe „nicht viel gebracht“.

„Mir fällt kein anderes wirksameres Mittel als Bildung ein, dem Antisemitismus entgegenzuwirken“, hob Sucher hervor. Aber leider gebe es kein Pflichtfach über die Geschichte der Juden in Deutschland. „Niemand kann das Eintreten gegen den Antisemitismus fordern, ohne zugleich für Aufklärung in den Schulen und Universitäten zu sorgen“, meinte Sucher. In seiner einführenden Rede hatte auch Schulleiter Rudolf Loch darauf hingewiesen, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu widmen: „Ich war mit Schülern kürzlich auf einer Klassenfahrt nach Frankfurt. Und auf dem Weg zum jüdischen Museum passierten wir viele Stolpersteine.“ Aber diese seien ihnen nur aufgefallen, weil Antisemitismus das Thema des Tages war. „Eigentlich stolpern wir nicht, sondern gehen darüber hinweg“, sagte Loch. Immerhin sei aber in Lahnstein die Geschichte hinter den Namen auf den Stolpersteinen gut belegt. „Eine Schülerin des Johannes-Gymnasiums hat sogar eine Facharbeit darüber geschrieben.“

2019 hatte Sucher die Doppelbiografie „Mamsi und ich“ über sich und seine jüdische Mutter verfasst. Seine Verlegerin hätte ihm daraufhin vorgeschlagen, ein Buch über das Leben als Jude in Deutschland zu schreiben. Bei seiner Recherche wollte Sucher eigentlich bestätigt finden, was Politiker immer wieder in ihren Reden bekräftigen: „Ich ging davon aus, dass das so oft betonte ‚Nie wieder!‘ von einem kompromisslosen Eintreten für deutsche Juden begleitet sein würde“, meinte der Autor. Aber er wurde wohl enttäuscht. Denn Sucher zitierte einen Satz von Matthias Claudius, der „sehr gut auf den Umgang mit dem Antisemitismus in Deutschland“ passe: „Beurteile einen Menschen lieber nach seinen Handlungen als nach seinen Worten; denn viele handeln schlecht und sprechen vortrefflich.“

Auch in der anschließenden Runde, bei der sich die Schüler anfangs sehr zurückhielten, dann aber immer lebhafter nachfragten, kam dieses Thema wiederholt auf. So zeigte sich Sucher sehr enttäuscht darüber, dass nach dem Massenmord in Israel am 7. Oktober 2023 kein Kollege an der seiner Uni auf ihn zu gekommen sei, um mit ihm darüber zu sprechen: „Niemand fragte mich, ob Verwandte von mir betroffen sind, wie ich mich fühle, oder ob ich Angst habe. Es fehlt hier offensichtlich an Empathie“, merkte Sucher an. Um gleich darauf Gotthold Ephraim Lessing zu zitieren: „Wie leicht ist es, andächtig zu schwärmen, statt gut zu handeln.“

Sucher hatte bewusst nur aus dem Vorwort und einigen Passagen am Ende seines Buches vorgelesen, da er an einem direkten Austausch mit den Schülern interessiert war. Dabei ging es auch um seine Einstellung zu Gott. Sucher erzählte, dass er aufgrund seines evangelischen Vaters noch konfirmiert worden sei. Dann habe er sich aber schon mit zwölf Jahren bewusst für die Religion seiner Mutter entschieden: „Ich habe ein Problem mit der Dreieinigkeit. Ich wollte einfach nur zu einem Gott beten.“ Im Zusammenhang mit seiner Mutter berichtete er dann, dass sie als eine von nur drei Frauen das Vernichtungslager Majdanek überlebt hätte. Eine Schilderung, bei der Sucher sichtlich mit den Tränen zu kämpfen hatte. In solchen Momenten wurde es plötzlich ganz still in der Aula.

Immerhin war diesmal kein Polizeischutz nötig, der sonst bei öffentlichen Veranstaltungen mit Sucher erforderlich ist. Aber auch darüber hinaus hat der Autor seine Bedenken: „Ich würde mich in vielen Stadtteilen Berlins inzwischen nicht mehr trauen, mit einer Kippa herum zu laufen. Und auch in München gibt es solche Stadtteile.“ Früher sei er noch in öffentlichen Verkehrsmitteln mit der Kippa in die Synagoge gefahren. „Seit dem Hamas-Überfall sind wir jedoch von unserer Gemeinde aufgerufen worden, auf alles zu verzichten, was darauf hin deutet, dass wir Juden sind. Und das ist schrecklich!“ Schon in seiner Kindheit und Jugend sei das Leben als Jude in Deutschland nicht immer einfach gewesen, erinnerte sich Sucher: In der Volksschule sei er gehänselt worden, „guck mal, da kommt der Jude“. Und während seines Studiums in Hamburg habe er einmal einen Davidstern an einer Kette getragen. „Ein Kommilitone, der in der Romanistik bei Klausuren immer schön bei mir abgeschrieben hat, sah den Davidstern, spukte mir ins Gesicht und schrie ‚Scheiß Jude‘.“ Auch kürzlich, nach einem Interview in der „Zeit“, habe es ähnliche Kommentare gegeben. Und so schloss der Autor mit dem Fazit: „Nichts wünschen sich deutsche Juden mehr, als eine sichere Heimat!“

aus: Mittwoch, 27. November 2024, Rhein-Lahn-Zeitung, Seite 20

Bilder: Dr. Dirk Förger